Wechselwirkung von ionisierender Strahlung mit Materie

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Wenn Teilchenstrahlung (Alpha-, Beta- und Neutronen-Strahlung) oder hochenergetische elektromagnetische Strahlung (Gamma-Strahlung) auf Atomhüllen oder Atomkerne trifft, so werden Veränderungen an diesen hervorgerufen. Umgekehrt wird auch eine Rückwirkung auf die Strahlung erfolgen, beispielsweise eine Verringerung deren Energie oder eine Richtungsänderung ihrer Bewegung.

Man spricht deshalb ganz allgemein von einer Wechselwirkung zwischen Strahlung und Materie. Wie die Wechselwirkung im konkreten Fall aussieht, ist von vielen Faktoren abhängig. Sowohl von der Art und Energie der Strahlung als auch von der Art und der Struktur der Materie, mit der die Strahlung in Wechselwirkung tritt. In vielen Fällen treten auch mehrere Wechselwirkungen nebeneinander auf bzw. überlagern sich. Hier wird es wichtig sein, die dominierende Wechselwirkung zu bestimmen.

Die Wechselwirkung zwischen ionisierender Strahlung und anderen Materialien ist vor allem in Bezug auf den menschlichen Körper von Interesse, weil erst mit möglichst genauer Kenntnis der unterschiedlichen Wechselwirkungen eine Abschätzung eines möglichen Gefahrenpotenzials erfolgen kann.

Wechselwirkung von Alpha-Strahlung mit Materie 

Alphateilchen wechselwirken mit den Atomen der durchstrahlten Materie vor allem dadurch, dass sie diese Atome anregen oder ionisieren. Ionisierung bedeutet, dass ein Elektron aus der Hülle des betreffenden Atoms herausgelöst wird. Dadurch entsteht ein positives Ion. Durch die dabei zu leistende Abtrennarbeit wird das Alphateilchen verlangsamt.

Das herausgelöste Elektron kann so energiereich sein, dass dieses seinerseits weitere Atome ionisieren kann. Diese Situation bezeichnet man als Sekundärionisation. Wenn das herausgelöste Elektron hinreichend langsam ist, kann es sich an ein anderes Atom anlagern. Es entsteht damit ein negativ geladenes Ion. Beide, das negative und das positive Ion ergeben dann ein sogenanntes Ionenpaar.

Versuche zeigen, dass Alpha-Teilchen ihre Energie nicht gleichmäßig an die umgebende Materie abgeben, sondern bevorzugt dann, wenn sie schon relativ "langsam" geworden sind. Die nachfolgende Abbildung zeigt die Zahl der gebildeten Ionenpaare in Abhängigkeit von der in Luft zurückgelegten Wegstrecke einer Alphastrahlung.

Wechselwirkung von Alpha-Strahlung mit Materie Wechselwirkung von Alpha-Strahlung mit Materie*

Die Abbildung zeigt auch, dass in Luft unter Normalbedingungen nach einer Strecke von etwa 7 cm die Alphateilchen soviel Energie abgegeben haben, dass keine Ionisierung mehr stattfindet. Es ist nach dieser Distanz auf thermische Energien abgebremst. Das Alphateilchen wird dann aus der Umgebung zwei Elektronen einfangen und als vollständiges Heliumatom weiter existieren. Für einen Organismus ist es in diesem Moment nicht mehr gefährlich.


Wechselwirkung von Beta-Strahlung mit Materie 

Treffen Beta-Teilchen auf Materie, treten Ionisationseffekte, Bremsstrahlung, Anregung getroffener Atome und Streuung der Beta-Strahlung selber auf. Die wichtigsten Effekte sind, ähnlich wie bei der Alpha-Strahlung, die Bildung von Ionenpaaren und das Auftreten von Bremsstrahlung. Vergleicht man die Bildung von Ionenpaaren durch Beta-Strahlung mit der durch Alpha-Strahlung, so zeigt sich, dass durch Beta-Strahlung deutlich weniger Ionenpaare je zurückgelegtem Weg entstehen, als bei Alpha-Strahlung. Eine Übersicht ist in der nachfolgenden Tabelle dargestellt.


Energie der Teilchen
in MeV
erzeugte Ionenpaare pro cm
bei Alpha-Strahlung bei Beta-Strahlung
1 60 000 50
10 16 000 45

Um seine Energie abzugeben, muss ein Beta-Teilchen also eine wesentlich längere Wegstrecke zurücklegen als ein Alpha-Teilchen. Mit anderen Worten bedeutet das, dass die Eindringtiefe der Strahlung deutlich größer ist. In Luft beträgt die Reichweite von Beta-Strahlung, je nach deren Energie, einige Zentimeter bis zu einigen Metern.

Man bezeichnet deshalb auch Alpha-Strahlung als dicht ionisierende Strahlung, während man die Beta-Strahlung als locker ionisierend bezeichnet.

Betateilchen können auch dadurch an Energie verlieren, dass sie im elektrischen Feld eines Atoms abgebremst werden. Die Energie, die es dabei verliert wird in Form eines Photons abgegeben. Diese Strahlung bezeichnet man als Röntgenbremsstrahlung.


Wechselwirkung von Gammastrahlen mit Materie 

Die Wechselwirkung von Gammastrahlung mit Materie wird vor allem durch drei unterschiedliche Wechselwirkungsprozesse sowohl mit dem Atomkern als auch mit der Elektronenhülle des Atoms charakterisiert: Den Photoeffekt, den Comptoneffekt und den Paarbildungseffekt. Je nach Energie der Gammastrahlung, die bei natürlichen und künstlichen Radionukliden zwischen 0,003 und 17 MeV liegt, überlagern sich diese Wechselwirkungsprozesse, wobei je nach Energiebereich einer der Prozesse jeweils dominiert.

Photoeffekt

Der Photoeffekt dominiert bei relativ kleinen Energien der Gammastrahlung und hohen Ordnungszahlen des Absorbermaterials. Dabei werden durch das Gammaquant ein oder mehrere Elektronen aus der Hülle des Absorberatoms herausgelöst. Das Atom wird dadurch ionisiert und das Gammaquant verschwindet. Das freiwerdende Elektron bezeichnet man als Photoelektron. Dieses gibt seine Energie durch Ionisation oder Anregung an die Atome seiner Umgebung ab.

Auf Grund der Energie des Gammaquants werden überwiegend Elektronen aus den unteren Schalen der Elektronenhülle, vor allem der K-Schale, als Photoelektron herausgelöst. Das führt zu einer weiteren Konsequenz: Andere Elektronen aus der Hülle besetzen die frei gewordene Stelle in des Photoelektrons und geben dabei ihrerseits Energie ab. Diese wird in Form von Röntgenstrahlung emittiert.

Photoeffekt Photoeffekt*

Comptoneffekt

Dieser Effekt wird vor allem durch Gammaquanten mittlerer Energie hervorgerufen. Das Gammaquant löst dabei ein Elektron aus der äußeren Hülle des Atoms heraus und verliert dadurch etwas von seiner Energie (größere Wellenlänge der Gamma-Strahlung). Gleichzeitig ändert sich seine Bewegungsrichtung, es wird gestreut. Das Atom, an dem die Comptonstreuung stattgefunden hat, wird durch den Verlust des Comptonelektrons ionisiert. Das gestreute Gammaquant kann weitere Comptoneffekte hervorrufen, bis es soviel an Energie verloren hat, dass es durch einen Photoeffekt vollständig verschwindet.

Comptoneffekt Comptoneffekt*

Paarbildung

Bei höherer Energie der Gammastrahlung überwiegt der Effekt der Paarbildung im Wechselwirkungsmaterial, vorzugsweise bei Absorbermaterialien mit hoher Ordnungszahl. Dabei wird im Feld des Atomkerns das Gammaquant vernichtet und es entstehen ein Elektron und ein Positron als Paar. Die dafür mindestens erforderliche Energie beträgt 1,022 MeV. Hat das Gammaquant eine höhere Energie, so erhält diese das Teilchenpaar als Bewegungsenergie mit auf den Weg. Bei ausreichend hoher Energie können auch zwei Elektronen-Positronen-Paare entstehen.

Paarbildung Paarbildung*

Das bei der Paarbildung entstandene freie Positron hat eine relativ geringe Lebensdauer. Es wird sich, nachdem es seine Bewegungsenergie auf das Wechselwirkungsmaterial übertragen hat, mit einem Elektron vereinigen. Dabei wird das Teilchenpaar vernichtet und wandelt sich in ein Paar von Gammaquanten um, wobei jedes Quant eine Energie von 0,511 MeV hat.

Paarvernichtung Paarvernichtung*

Wechselwirkung von Neutronen mit Materie 

Da Neutronen elektrisch neutral sind, können sie mit den Atomhüllen des Absorptionsmaterials nicht in Wechselwirkung treten. Deshalb finden keine unmittelbaren Ionisationen oder Anregungen statt. Eine mögliche Wechselwirkung ist deshalb der unmittelbare Zusammenstoß des Neutrons mit dem Atomkern des Absorbermaterials.

Hierbei unterscheidet man elastische und unelastische Stöße. Beim elastischen Stoß ist die Summe der Energie beider Stoßpartner vor und nach dem Stoß gleich. Beim unelastischen ist sie geringer. In diesem Fall hat das Neuron das Stoßatom angeregt. Dieses gibt seine Anregungsenergie in Form eines Gammaquants wieder ab. Elastische Stöße finden vor allem bei Neutronenstrahlungsenergien im Bereich von 10 KeV bis 1 MeV, unelastische im Bereich von 1 bis 10 MeV statt.

Die bestmögliche Übertragung von Bewegungsenergie und damit die bestmögliche Abbremsung von Neutronen ist dann gegeben, wenn die beiden Stoßpartner die gleiche Masse haben, das heißt, wenn es sich um den Kern eines Wasserstoffatoms handelt.

Der von einem Neutron angestoßene Kern wird als Rückstoßkern bezeichnet und kann soviel Bewegungsenergie erhalten haben, dass er aus seinem Atom- bzw. Molekülverband herausgelöst wird und andere Atome in seiner Umgebung anregt oder ionisiert.

Eine andere Wechselwirkung besteht im Einfang der Neutronen durch einen Atomkern des Absorptionsmaterials. Dadurch wird der Atomkern instabil und wandelt sich nach kurzer Zeit wieder in einen stabilen Kern um, indem er geladene Teilchen und/oder Gammaquanten aussendet. Die Wahrscheinlichkeit für einen Neutroneneinfang hängt von vielen Randbedingungen, vor allem von der Energie der Neutronen ab. Sie wird durch den sogenannten Wirkungsquerschnitt beschrieben, für den die Maßeinheit barn (1 barn = 10-28 m2) verwendet wird.

Wirkungsquerschnitt Wirkungsquerschnitt*

Bekannt ist auch der sogenannte Resonanzeinfang von Neutronen. Dabei zeigt für bestimmte Atomkerne die Einfangwahrscheinlichkeit von Neutronen bestimmter Energie ein ausgeprägtes Maximum. Ein solcher Verlauf der Einfangswahrscheinlichkeit ist für Cadmium in der Abbildung dargestellt. Diese Effekte werden gezielt genutzt, beispielsweise bei der Steuerung von Kernreaktoren. Eine solche Reaktion ist der Neutroneneinfang durch Bor:


1 n + 10 B --> 7 Li + 4 He + Gammaquant
0 5 3 2
Neutroneneinfang Neutroneneinfang*

Die Abbildungen stammen aus Kernenergie Basiswissen von Martin Volkmer, Informationskreis Kernenergie, 2003