Umstrukturierung des Gesamtprozesses im entwickelten Kapitalismus

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Marktdominanz heute 

Die mit der Entwicklung des Kapitalismus verbundene industrielle Revolution wird von unterschiedlichen Wissenschaftlern in der gleichen Bedeutung gesehen wie die Jungsteinzeit, welche den Beginn der menschlichen Entwicklung kennzeichnet. Und tatsächlich: betrachten wir einmal, wie viele Menschen, ob diese wollen oder nicht, ihren Lebensunterhalt über einen Markt vermittelt gestalten, so können wir tatsächlich von einem Dominanzwechsel sprechen. Eine immer weiter wachsende Mehrheit der Menschen muss ihr Leben vermittels des Marktes gestalten und das in immer weiteren Lebensbereichen. Das bedeutet natürlich, dass die bereits oben beschriebenen marktspezifischen Interessenlagen und die daraus resultierenden Denk- und Verhaltensweisen das Leben von immer mehr Menschen immer stärker bestimmen, dass sie auf der Grundlage verbreiteter religiöser Lehren sogar diese Lebensweise verinnerlichten.

Die Tatsache, dass im Ergebnis dieser Entwicklung die Arbeitskraft vieler Menschen selber zu Ware wird, die diese auf dem dann folgerichtig auch so genannten Arbeitsmarkt, verkaufen müssen, hat für mich mit Mensch-Sein, mit Humanismus nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun. Hier hat sich eine von Menschen gemachte, von ihnen über tausende von Jahren entwickelte abstrakte Tauschlogik verselbständigt, hat quasi ein Eigenleben entwickelt. Sie erscheint vielen Menschen als für sie unausweichlich, als unabwendbares Naturgesetz, ja als erstrebenswerter Lebensinhalt, welchem sie ausgeliefert sind und gegen das sie sich nicht zur Wehr setzen können.

Diese Art der Lebensgestaltung wird als so "natürlich" empfunden, dass sie die gesamte Lebensweise der Menschen, ihre gesamte Kultur beeinflusst. Das beginnt beim unwillkürlichen Rhythmusempfinden und der darin wurzelnden, für uns heute "klassischen" Musik, geht über eine völlig neue Art der Naturwissenschaft, die wiederum die Grundlage für unseren heutigen technischen Entwicklungsstand ist und reicht bis zu einer neuen Philosophie, die wir heute auch als die "klassische" bezeichnen.

Michel Foucault belegte mit seinen Untersuchungen zum Umgang der Gesellschaft mit erkrankten Menschen sowie mit Straftätern, dass die heute üblichen Verfahrensweisen im Umgang mit diesen Menschen erst im 17./18. Jahrhundert eingeführt wurden. Grund beispielsweise für die Separierung kranker Menschen in Kliniken war eine "… neue Funktion des medizinischen Diskurses im System administrativer und politischer Kontrolle der Bevölkerung (die Gesellschaft als solche wird gemäß der Kategorien des Gesunden und des Pathologischen betrachtet und "behandelt")" [M. Foucault 1968, S. 45].

Ziel war es, zu erforschen, warum "Abweichungen" auftraten und wie man diese wieder beseitigen kann, denn für die sich entwickelnde Industrie bedurfte es gesunder, disziplinierter, möglichst nicht von einer idealen "Norm" abweichender Menschen. Uns ist heute diese ursprüngliche Funktion von Kliniken nicht mehr bewusst. Wir nehmen diese Art des Umgangs mit Krankheiten als selbstverständlich hin, ohne sie zu hinterfragen. Dass es da auch andere Herangehensweisen gibt dämmert uns bestenfalls noch, wenn wir uns mit den Prinzipien der chinesischen oder indischen Medizin befassen und uns wundern, dass das auch wirksam ist.

Diese Entwicklung, dass sich die menschliche Gesellschaft immer umfassender an den Funktionsweisen und den Erfordernissen des Marktes misst, hat sich bis heute immer weiter beschleunigt und gerät nunmehr an ihre Grenzen. Grenzen in vielerlei Hinsicht. Materieller Art, weil die Ressourcen merklich knapp werden und die Marktgesetze (hohe Preise für knappe Ressourcen) dem erforderlichen Gebrauch, dem eigentlichen Zweck menschlicher Lebenstätigkeit, widersprechen. Aber auch ideeller Art, weil beispielsweise die Beschleunigung des menschlichen Lebensalltags durch Computer, Handy, rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit und weltweite informationelle Vernetzung in Echtzeit von vielen Menschen physisch und psychisch nicht mehr verkraftet wird. Das Burn-Out-Syndrom mag dafür nur ein Beispiel sein. So ist bereits die Forderung nach Entschleunigung als grundlegendes Menschenrecht erhoben worden.


aktuelle Beispiele 

Diese von uns gegenwärtig erlebte Entwicklung entspricht dem letzten Schritt des methodischen Fünfschritts nach Holzkamp, der Umstrukturierung des Gesamtprozesses. Alle Prozesse, auch solche, die unsere Lebensweise nicht bestimmen, aber doch unverzichtbar dazugehören, strukturieren sich in Richtung auf die Marktwirtschaft um. Einige Beispiele für diese Entwicklung: Medienkultur, beispielsweise der Inhalt von Fernsehprogrammen, orientiert sich immer mehr an Einschaltquoten um Werbung profitabel im Programm unterbringen zu können. Eine Konferenz der Leiter von Orchestern in Deutschland im November 2006 diskutiert die Frage, ob Spielpläne und Programminhalte sich nicht stärker am Geschmack des Publikums orientieren sollten, damit möglichst viele Karten verkauft werden können. Im kommunalen Bereich werden unserer Lebensgrundlagen, beispielsweise die Wasserversorgung oder bisher kommunale Wohnungen rücksichtslos privatisiert. Die Rente soll zunehmend auf einer Kapitalbasis erbracht werden usw. usf.

Als ein ganz wichtiges Kriterium erachte ich den Gebrauch der Alltagssprache. So finde ich immer mehr die Begriffe "Wert" oder "wertig". Krönung: Die Deutsche Angestellten Krankenkasse (DAK) wirbt mit dem Slogan "Unternehmen Leben". Hier wird das gesamte Leben als "Unternehmen" gesehen! Einige Schlagwörter der DAK-Website im November und Dezember 2006:

  • Gesundheit ist Gold…
  • Gesucht: der 500.000ste Teilnehmer am gesundAktivBonus…
  • DAK übernimmt weiterhin Kosten für Insulinanaloga…
  • DAK senkt Umlagesätze ab 01.01.2007

Kaufmännische Begriffe finden sich überall in unserer Sprache: Gold, Bonus, Kosten, Umlage, … Diese Beispiele mögen belegen, wie tief diese Denkweise des Marktes bereits in unser Alltagsleben eingedrungen ist.

Bild wozu...?

Aber auch das Gefangensein in dieser Lebensweise hat sich verfestigt. Es fällt vielen Menschen immer schwerer, die dargestellten Hintergründe und Zusammenhänge zu erkennen und auf diese Weise einen Ausstieg aus diesem Teufelskreis zu finden weil das für sie bedeuten würde, ihre gesamte Lebensweise in Frage zu stellen. Eine klare, eindeutige und fundierte Kritik an dieser Lebensweise erscheint nur unter zwei Bedingungen möglich:

Entweder ist der Kritik-Übende in der Lage, die dargestellten Zusammenhänge zu durchdringen um von dieser Erkenntnis-Position des Begreifens der Zusammenhänge aus die Kritik formulieren zu können oder der Mensch ist überhaupt nicht in dieser Lebensweise und damit dieser Denkweise verhaftet.

Ein mir bekanntes Beispiel für eine klar formulierte Kritik der Warengesellschaft von Menschen, die eine völlig andere Lebensweise praktizieren ist folgende Formulierung: "Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen, werdet Ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann!" Dieser Spruch ist bekannt als Weissagung des kanadischen Stammes der Cree-Indianer, für dessen Authentizität ich mich allerdings nicht verbürgen möchte. Diese Menschen organisieren ihren Lebensalltag gemeinschaftlich unmittelbar in der Natur und mit der Natur. Ein Tausch von Produkten vermittels eines Marktes ist in dieser Lebensweise nicht erforderlich. Damit ist auch kein Geld nötig. Diese Weissagung soll uns unsere Augen genau dafür öffnen, dass das universelle Tauschmittel der Warenproduktion, das Geld, eben gerade kein Ding ist, das wir zum Leben wirklich brauchen. Es hat keinen Gebrauchswert im Sinne eines für unser Leben notwendigen, also von uns zum Zweck der Erhaltung unserer Existenz zu verbrauchenden, zu verzehrenden Gutes.

Nun weiß ich aus eigener Erfahrung, dass es für einen Außenstehenden viel einfacher ist, ein Problem, eine festgefahrene Situation zu betrachten, zu analysieren und die Ursachen zu erkennen oder Tipps zur Problembewältigung zu geben, als für die unmittelbar Beteiligten selber. Zumal wenn die Beteiligten eigentlich gar nicht recht bereit sind, ihre Situation zu analysieren, sich gedanklich aus-sich-heraus-zu-begeben, einen Außen-Standpunkt einzunehmen. Wenn sie kurz gesagt (k)einen Bock haben. Was könnte in diesem Dilemma Hoffnung geben, es trotzdem zu versuchen, immer wieder "fragend voran" zu schreiten, Fragen immer wieder neu aufzuwerfen, auch wenn uns, um mit Brecht zu sprechen die Worte "wie Asche im Mund" schmecken? Ich möchte hier einige ausgewählte Aspekte darstellen, die mir persönlich immer wieder den Mut geben, weiter zu fragen, mich nicht rauszuhalten, sondern mich einzumischen.